An Arendtian Lexicon edited by Eduardo Staszowski and Virginia Tassinari, Bloomsbury Visual Arts, 12. November 2020
Lexikon von verschieden Autor*innen zu Kernaussagen aus Arendt’s Werk in Verbindung zu Design. Rezension und Übersetzung von Ilka Schaumberg und Originalzitaten von Hannah Arendt
Das Ziel von Totalitarismus ist menschliche Spontanität, Individualität und Pluralität zu zerstören. (S. 337)
„…history knows many periods of dark times in which the public realm has been obscured and the world become so dubious that people have ceased to ask any more of politics than that it show due consideration for their vital interests.“ (S.13)
Franz Kafka beschreibt diese Dunkelheit als einen Tunnel, wo Anfang und Ende unklar sind und Menschen sich in einem Gefühl der Lähmung befinden. (S. 13) In einer Situation wie dieser wäre es besser nichts zu tun oder trotz Zweifel zu agieren?
Menschen, die vernachlässigt und vergessen wurden, sehnen sich nach einem Narrativ – das Sinn stiftet für die Ängst, die sie erleben, und das eine Art von Erlösung verspricht. Eine autoritäre Führung hat den grossen Vorteil, diese Ängste auszunutzen und eine Fiktion zu kreieren, die die Leute glauben wollen. Eine fiktive Story, die die eigenen Probleme verspricht zu lösen ist viel verlockender als Fakten und vernünftige Argumente. (S. 338)
Ausflüchte sind erwartbar in einem Klima, in dem öffentliche Verkündigungen nur neue Folgen einer Soap Opera sind. Tweets, News und Ads posieren als Story zwischen der Story und verhindern Kontemplation, ganz davon zu schweigen die Berücksichtigung andere Standpunkte. Solche Ablenkungen reduzieren unsere Fokus zum Nutzen derer, dessen Ideen keiner Prüfung standhalten. (S. 288) Unser Alltag raubt uns die Zeit zum Nachdenken. (S. 307)
„The result of a constant and total substitution of lies for factual truth is not that the lies will now be accepted as truth, and the truth defamed as lies, but that the sense by which we take our bearings in the real world – and the category of truth vs. falsehood is among the mental means to this end–is being destroyed.“ (S. 338)
Arendt verstand wie Propaganda wirklich funktioniert, Wölfe erscheinen in virtuellen Schafspelzen und haben eine größere Rechweite als jemals zuvor. (S. 354) Propaganda ist ein eindeutiges Machtmittel, unterstützt durch den Aufstieg der Massenmedien und den Apparat der Kulturindustrie, indem man notwenige Informationen für eine offene Debatte verweigert. (S.256)
„What convinces masses are not facts, not even invented facts, but only the consistency of the system of they are presumably a part:“ (S. 338)
Das Verschwinden des öffentlichen Raums öffnet in seiner Konsequenz die Tür zu totalitären Systemen, in denen das Individuum – in seiner Vereinsamung – dem herrschenden System die Kontrolle über alle Aspekte des Lebens überlässt. (S. 16)
Arendt argumentiert, dass der Rückzug aus dem öffentlichen Bereich in die innere Emigration zu einem Verlust an Menschlichkeit und zu Realitätsferne führt, was es anderen ermöglicht diesen Bereich zu dominieren – und dies nicht zwangsläufig für das Wohl aller. Es ist notwendig die Bürger in einem philanthropischen Dialog zu vereinen, um die Welt miteinander zu teilen. (S. 41/42)
„It is the very nature of totalitarian regimes to demand unlimited power. Such power can only be secured if literally all men, without a single exception, are reliably dominated in every aspect of their life…Totalitarian solutions may well survive the fall of totalitarian regimes in the form of strong temptations which will come whenever it seems impossible to alleviate political, social or economic misery in a manner worthy of man.“ (S. 315)
Was kann Design den „inneren Emigranten“ anbieten, um sie in die Welt zurückzuholen und ihnen in dieser Handlung zu ermöglichen. (S..51) Wie kann es neben drängenden Fragen erfinderische, fantasievolle Ansätze finden für eine mögliche Welt? (S.60)
Es steht viel auf dem Spiel, die Frage der Entfremdung von der Welt ist essentiell nichts weniger als die Frage von „Menschlichkeit“ selbst. Wenn wir uns aus dem öffentlichen Bereich und dem fortwährenden Diskurs mit unseren Mitmenschen zurückziehen, der sich einzigartig in diesem Raum entfaltet, machen wir im Endeffekt die Welt weniger menschlich. (S. 49)
Wir leben in „Filter Bubbles“ der Algorithmen, die unsere digitale Erfahrung konfigurieren und uns in reibungslose Resonanzräume von unangefochtenen Konsens in Watte packen. (S.49)
Gerade durch den verstärkten Einsatz und die Macht von AI (Künstlicher Intelligenz) können neoliberale, totalitäre oder andere Ideologien verbreitet und andersartige Meinungen unterdrückt, zensiert und gelöscht werden. Google und dergleichen kontrollieren in Wirklichkeit die Wirklichkeit und unterdrücken durch Algorithmen und der Totalität der Daten Spontanität und Autonomie.
„Total power can be achieved and safeguarded only in a world of conditional reflexes, of marionettes without the slightest trace of spontaneity.“ (S.207)
Sobald menschliche Spontanität zerstört ist, gibt es wenig, dass die Zerstörung der Conditio Humana durch Totalitarismus aufhalten kann, daher kritisiert Arendt instrumentalisierte technische Rationalität und lehnt soziopolitische Ideologien von Kontrolle ab. (S. 284)
Trotz unendlichen Variationen von Anwendungen und Inhalten, sind global vernetzte Computer ein totalisierendes System, das zu einer Meta-Konditionierung führt, das kein Interesse an Menschen hat, sondern nur an zersplitterten menschlichen Funktionen von Marionetten.
„ For to destroy individuality is to destroy spontaneity, man’s power to begin some thing new out of his won resources, something that cannot be explained on the basis of reactions to environment and events…Those who aspire to total domination must liquidate all spontaneity…“ (S. 284)
Spontane Aktionen werden „geerntet“, um sie in programmierte Aktionen umzuwandeln. Wer ist Produzent oder Konsument? Sender oder Empfänger? Sklave oder Sklavenhalter? Die Aufmerksamkeitsökonomie füttert sich mit Echtzeitdaten von Gewohnheiten und Gesinnungen durch Scrolling, Swiping, Liking, Commenting. Diese unbeabsichtigte Arbeit wird zur Goldmine der Anbieter und führt zu fataler Abhängigkeit, die die Grenzen zwischen Arbeit, Sklaverei und Konsum verwischt. (S. 207)
Designer sind zu Experten geworden, die Individuen gezielt anvisieren, und Antworten und Verhalten vorhersehen und vorgeben, um Kunden lukrative Gewinne zu versprechen und das Risiko zu minimieren.
Digitale Automatisierung von Arbeit bei Infrastruktur, Transport, Finanzen, Kommunikation, Verkauf, Vertrieb, Administration, Bildung etc. macht Menschen überflüssig, Roboter imitieren nur die notwendigen funktionalen Körperteile für die profitable Produktion. (S. 206)
Bürokratie entmenschlicht uns und nimmt uns unsere Autonomie, wir fühlen uns machtlos angesichts automatisierter Telefonstimmen, undurchsichtiger Webseiten und Kontaktformularen. Wenn uns ein Algorithmus etwas untersagt, wer ist verantwortlich, wer ist schuld? Wo ist der Tyrann in der Cloud? (S. 78)
„In a fully developed bureaucracy there is nobody left with whom one could argue, to whom one could present grievances, on whom the pressure of power could be exerted. Bureaucracy is the form of government in which everybody is deprived of political freedom, of the power to ac; for the rule of Nobody is not n-rule, and where all are equally powerless we have a tyranny without a tyrant:“ (S. 78)
Wie können Prozesse und der bürokratische Apparat so gestalten werden, dass direktes Handel miteinander wieder ermöglicht wird?
Wir versuchen permanent alle menschlichen und nichtmenschlichen Prozesse, planetarisch, global, national, regional, urban, organisatorisch, individuell, vorherzusagen, zu messen, quantifizieren, überwachen und zu berechnen. Im Zentrum dieses Streben Data zu erfassen und zu kontrollieren ist der unerschütterliche Glaube an rationales, universelles und wissenschaftliches Wissen durch die Analyse von Data (und besonders Big Data), um Lösungen für Probleme zu finden: Autonome Vehikel, Sensoren und Kameras überall, unser Glaube an Künstliche Intelligenz und Roboter sowie an von unseren Stimmen gesteuerte Home-Assistenten und Self-Tracking Technologien. (S. 296)
„The discussion of the whole problem of technology thats is, of the transformation of life and world through the introduction of the machine, has been strangely led astray through an all-two-exclusive concentration upon the service or disservice the machines render to men. The assumption here is that every tool and implement is primarily designed to make human life easier and human labor less painful…The question therefore is not so much whether we are the masters or the slaves of our machines, but wether machines still serve the world and its things, or if, to the contrary, they and the automatic motion of their process have begun to rule and even destroy the world and things:“ (S. 198)
Arendt fragt, ob Machinen noch der Welt und deren Dinge dienen oder ob im Gegenteil sie und der automatische Lauf ihrer Prozesse angefangen haben über die Welt und ihre Dinge zu herrschen und sie sogar zu zerstören. Technologie geht nun über Berechnungen hinaus ins Biologische und es wird noch zu sehen sein, ob diese Technologien das Wesen von Natur genauso oder mehr transformieren und zerstören wie die der menschlichen Fertigkeiten. (S. 297)
Designer sind oft angezogen von technischen Herausforderungen, die jedoch auch hinsichtlich des Verstehens von Kontext und ethischen und politischen Implikationen kritisch hinterfragt werden müssen. (S. 200) Die Zeiten, in denen Auswirkungen auf die sieben nachfolgende Generationen berücksichtigt werden, wie es bei einigen eingeborenen Gemeinschaften zu beobachten war, sind lang vorbei. (S. 218)
Die Neigung zum Funktionalem kann die Konsequenzen des Handelns nicht verstehen und für die Auswirkungen des Erschafften Verantwortung übernehmen – sei es Zigaretten Atomwaffen, Computer, Nanotechnologie, Internet. Dieser Makel ist maßlos, eine Ironie in einem Zeitalter das zunehmend mit metrischen Regeln regiert wird. (S. 308) Diese Tropen der Gedankenlosigkeit fallen unter die „Banalität des Bösen“. Nicht Hoffnung, Idealismus, Utopien werden „uns“ in eine lebensfähige Zukunft bringen, sondern der Mut, der Überlebenswille. (S. 309)
„Fundamentally we act to de-future because we do not understand how the values, knowledges, worlds, and wings we create go on designing after we have designed and made them.“ (S. 19)
Was wäre wenn Designer den Blick erweitern auf Gesellschaft, Recht, Politik, Öffentlichkeit, Kultur, Normen, Macht, Regierung, Arbeit, Institutionen, Diskurs, um den öffentlichen Bereich und die politische Gemeinschaft zu schützen? (S.210/11)
Menschen brauchen kulturelle Werkzeuge (cultural tools), die es ihnen ermöglichen, die aktuellen Probleme und Möglichkeiten zu erkennen und sich mögliche Zukunftsszenarien vorzustellen. Ezio Manzoni meint, es ist die Hauptaufgabe der Designer in der Verantwortung für die Demokratie – neben den operativen Werkzeugen für Co-Design – diese Werkzeuge zu entwicklen und zu verbreiten. (S. 118)
Können andere Arten der Herstellung wie DIY- Lösungen und Open Source 3D Printing Menschen dazu motivieren ausserhalb von Routine und Vorhersehbarkeit neue Zukunftsmodelle zu erkunden? Ist Making ein Schlüssel, um die Angst vor Neuem und der Eigenverantwortung in einer unsicheren Welt und die Passivität, die durch Konsum und Wohlfahrtsstaat entstanden ist, zu durchbrechen? (S.136)
Die Rolle des individuellen Makers in einer Massengesellschaft könnte tatsächlich ein Funke sein, ein Funke von Freiheit in einer Welt, die ausschließlich von Gewinn regiert wird. Es ist an der Zeit, dass skeptische Bürger und freie Individuen, neue, unabhängige Netzwerke schaffen und den herrschendem Machtsystemen misstrauen. (S. 150)
„In acting and speaking, men show who they are, reveal actively their unique personal identities and thus make their appearance in the human world…This revelatory quality of speech and action comes to the fore where people are with others and neither for nor again them – that is, in sheer human togetherness.“ (S. 311)
Pluralität verlässt den homogenen Volkswillen, welcher durch seine vereinheitlichen Handeln ein politisches Regime und seine Führung legitimiert. (S. 247) Arendt’s Formulierung von Pluralität signalisiert auch den Versuch, ihre nicht so ferne Vergangenheit und eine Gegenwart, die bedroht bleibt von dem kontinuierlichen Verlockungen eines solchen homogen Volkswillen, zu bewältigen. (S. 248)
In dunklen Zeiten begegnen wir Diskurs als Kampfsportart und nennen Zensur Schutz, wir sind in einem Konfrontationsmodus während wir uns zugleich weigern uns mit dem zu konfrontieren, was uns Unbehagen macht, wir wollen nur Bestätigung. (S. 220)
Arendt warnt uns, dass Gemeinschaft verloren ist sobald wir für oder gegen jemand sind, sobald wir einem Aktionsplan verpflichtet sind und aufhören die Unmittelbarkeit des was ist wahr zu nehmen. (S. 311)
In einer Zeit des Eliminieren von Unterschieden und der Dämonisierung von Andersdenkenden ist es für Designer notwendig die Rolle eines blockfreien, nicht-institutionalisierten Vermittler einzunehmen. (S.44/317).
Öffentliche Orte entstehen aus Kollaborationen bei den Menschen zusammenkommen – wegen ihrer Menschlichkeit und nicht wegen ihrer Privilegien, Expertise oder reduktiven Wettbewerb.
„The fundamental deprivation of human rights is manifested first and above in the deprivation of a place in the world which makes opinions significant and actions effective.“ (S.153)
Was kann Design tun für die Meinungsfreiheit? Design kann Dinge sicht- und greifbar machen und Orte schaffen, wo das Recht auf Meinung und Aktionen artikuliert werden können, was wiederum Dialog und Gemeinschaft fördern kann. (S. 156)
Die erkenntnistheoretische Herausforderung des summum bonum, das gemeinsame Gute, oder vielleicht auch dessen Fehlen – die Realisation dass es keine einzige Antwort oder sogar eine einzelne Form von Expertise und Praxis gibt, wissenschaftlich oder andersartig, das uns sagen kann, was wir tun sollen, wohin wir gehen oder bauen sollen – verlangt einen Sinn von Bescheidenheit von allen, die für die Gemeinschaft arbeiten, seien es Aktivisten, Experten oder Designer. (S. 250)
„The darkness is what comes when the open, light spaces between people, the public spaces where people can reveal themselves, are shunned or avoided, the darkness is the hateful attitude toward the public realm, toward politics. (S.13)
Design in seiner besten Form könnte als Einladungen zu gestalten agieren, um sich mit sich selbst auseinander zu setzen, Produktivität im Unbehagen zu finden, Macht und eingefahrene Identität aufzugeben, und dafür Bewegungen zu beleben für Identifikation und Austausch, Vertrauen und Zuwendung. (S. 220)
Die Artikulation von Individuen aus der Situation der Verzweiflung hat das Potential neue Handlungsweisen zu eröffnen. (S. 14) Nicht Sterblichkeit repräsentiert die Menschen, sondern Geburt und Anfang.
„Beginning, before it becomes a historical event, is the supreme capacity of man: politically, it is identical with man’s freedom.“ (S. 225)
Sorgfältig hergestellte Materialien und Zeichen können dem Betrachter einen Anstoss geben zu spekulieren, in welche Welt diese Objekte gehören könnten. (S. 332)
Es ist notwendig Dinge zu visualisieren, bewusst und transparent zu machen, aber es ist nicht ausreichend und erzeugt allein keinen Wandel. Arendt’s Beispiel von einem Tisch als Artefakt, der uns zusammen bringt, kann dazu inspirieren, welche anderen Dinge wir konzeptualisieren und herstellen können, die uns zusammen bringen – Kommunikation, Veranstaltungen, Umgebungen, Systeme uns so weiter.
Gestaltete Dinge dienen dann dazu zwischen uns zu vermitteln und uns zu verbinden, die Produkte und Services von Design werden dann Dinge die daran mitwirken, Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten, indem sie Strukturen und Erfahrungen anbieten, mit denen wir im Dazwischen in Beziehung treten und auch die Prozesse dahin öffentlich machen. (S. 265)
Zuhören ist ein Teil eines offenen Prozesses – ohne vorgefertigte Ergebnisse und Designer können Bewohner und Nutzer einladen, ihre Geschichten zu erzählen und von ihnen lernen. (S. 289)
Ironie und Lachen sind allgemein eingeschworene Feinde des totalitären Staates. Ironie lädt Zweifel ein, Zweifel erzeugt Unzufriedenheit, Unzufriedenheit löst Aktion aus. (S. 293
Um gegen politische Gefahren gewappnet zu sein müssen wir Verantwortung für unser politisches Leben übernehmen. In der momentane Situation, wo die Möglichkeit mit unseren Mitmenschen eine aufrichtige Debatte zu führen vermindert ist, müssen wir der Versuchung widerstehen, uns von der Politik zu verabschieden und anzunehmen, dass nichts getan werden kann gegen aktuelles Unrecht, Betrug und Korruption. (S. 338)
The Origins of Totalitarianism (1951), The Human Condition (1958), Between Past and Future (1961), On Revolution (1963), Men in Dark Times (1968), On Violence (1970)
Verwendete Schriften von Hannah Arendt